space München, 3. Dezember 2002 space space
war is the universal perversion ... John Rae
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Antony Beevor antwortet auf "WÜSTE SIEGERLAUNE"

Der Publizist und Historiker Joachim Fest hat über den dramatischen Untergang Berlins 1945 und die Darstellung seines britischen Kollegen Antony Beevor im SPIEGEL 44/2002 geschrieben:

Joachim Fests erstaunliche Kritik meines Buches, “Berlin 1945. Das Ende“, wird, wie ich hoffe, wenigstens ein paar nützliche Fragen aufwerfen, wie und warum Geschichte und Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, die Nazi-Herrschaft und ihr Zusammenbruch erneut Gegenstand einer Untersuchung werden soll. Der Zeitraum 1933-45 ist wahrscheinlich der am besten erforschte, den wir kennen. Die einzige Rechtfertigung für ein weiteres Buch zu diesem Thema kann nur darin bestehen, bislang unbekannte Quellen für eine neue Gesamtbeurteilung dieser Zeit heranzuziehen.

Joachim Fests Kritik läuft praktisch darauf hinaus, dass ich nicht das Buch geschrieben habe, das er selbst vorgelegt hätte bzw. mit seinem Buch „Der Untergang“ vorgelegt hat. Er ist ein bedeutender Autor, aber diese Tatsache sichert ihm nicht das Monopol an diesem Thema oder dessen Behandlung. Im Gegensatz zur deutschen akademischen Geschichtsschreibung, die einen analytischen Ansatz unter Verwendung von apriorischen Mustern vorzieht, tendiert die britische Tradition seit Edward Gibbon zur narrativen Darstellung im großen Bogen. Ob die Ursache für die Herausbildung dieses Stils im übermäßigen Selbstbewußtsein der Briten des 18. Jahrhunderts zu finden ist, wäre eine andere Frage; tatsächlich hat die Geschichtswissenschaft in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten im letzten Jahrzehnt einen bemerkenswerten Wandel erfahren, der sich auch in den gesellschaftlichen Umwälzungen spiegelt. Früher war der Ansatz der Geschichtsschreibung meistens übergreifend – man schrieb die Geschichte der Nation, der Armee, der gesellschaftlichen Klasse oder einer ganzen Industrie. Namentlich die Militärgeschichte wurde als großes Schachspiel dargestellt, in der sich Divisionen in perfekter Formation über das Schachbrett bewegten. Im Gegensatz dazu belegen persönliche Zeitzeugnisse etwas ganz anderes: ein Chaos, das sich von den Versuchen der Historiker abhebt, dem Geschehen eine unnatürliche Ordnung aufzuzwingen.

Das Umdenken begann vor etwa zwei Jahrzehnten mit der zunehmenden Bedeutung der „oral history“ – der Sammlung von Briefen, Tagebüchern, Interviews. Diese „oral history“ hat freilich ein großes Problem aufgeworfen: Wie stellt man die Originalquellen in einen sinnvollen Zusammenhang? Als ich mich zuerst mit dem Stalingrad-Stoff befasste und anschließend mit dem Berlin-Thema, wurde mir bald klar, dass ich am wirkungsvollsten mit dem von mir neu entdeckten Material, vor allem in russischen Archiven, umgehen würde, wenn ich die Geschichte „von oben“ mit der „von unten“ verbände. Nur so konnte ich schildern, was Stalins Entscheidungen im Kreml und Hitlers im Führerbunker für hunderttausende Frauen, Kinder und einfache Soldaten auf beiden Seiten - zerrieben zwischen zwei totalitären Regimen – für Folgen hatte. Joachim Fest mag das Hin und Her dieses Stils als „Patchwork“ bezeichnen, aber er hat nicht begriffen, dass genau dies die Intention meines Buches ist. Hätte ich jeden Aspekt analytisch untersucht, wäre das Buch ins Unförmige ausgeufert und unlesbar geworden.

Joachim Fest kritisiert an meinem Buch auch das Fehlen eines „leitenden Gedankens“. Damit stellt er die Frage nach der Aufgabe des Historikers. Ich für meinen Teil glaube, dass es die Hauptpflicht des Historikers ist, die Grenzen unseres Wissens durch die Entdeckung neuer Quellen zu erweitern, um dadurch unser Verstehen einer bestimmten Epoche zu vertiefen. Mitnichten kann es die Aufgabe des Historikers sein, moralisch Gericht über die Vergangenheit zu halten, was leicht dazu führt, unser heutiges Werteverständnis einer früheren Epoche überzustülpen. Der Historiker Norman Davies hat dieses Verhalten „Psycho-Anachronismus“ genannt. Es bleibt doch besser dem Leser überlassen, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ein „leitender Gedanke“ könnte den Historiker auch dazu verleiten, das Material so zu manipulieren, dass es seiner besonderen Theorie entspricht. Damit riskiert er, das Thema in ein ideologisches Korsett zu zwängen.

Die Geschichte geht nie sauber auf. Die Ausnahmen von der Regel müssen so wichtig sein wie die Regel selber. Unter einigen deutschen Historikern gibt es die Tendenz, fast jeden Soldaten der Wehrmacht an der Ostfront als Kriegsverbrecher hinzustellen. Das ist ebenso falsch wie die Behauptung, alle Rotarmisten seien mit deutschen Zivilisten ausschließlich brutal umgegangen. Einige von ihnen waren aber überaus hilfsbereit. Diese schreckliche Phase der Geschichte, so hoffe ich mit meinen Büchern zu zeigen, lehrt uns eines: dass die menschliche Natur ebenso unberechenbar sein kann wie das menschliche Schicksal.

Entschieden muss ich schließlich Joachim Fests Behauptung zurückweisen, ich würde gegen Ende meines Buches argumentieren, alle Deutschen hätten nach Kriegsende versucht, das Weltbild der Nazis zu rechtfertigen und sich damit ihrer moralischen Verantwortung zu entziehen. Er übersieht, worauf ich mich eindeutig und einzig beziehe: auf die vom Alliierten Hauptquartier ausgeführte Auswertung von dreihundert Verhören deutscher Generale und Nazi-Beamter – ausdrücklich nicht auf normale Buerger. In diesen Verhören begegnet man in der Tat einer erstaunlichen Weigerung, irgendwelche Untaten zuzugeben. Ich möchte Joachim Fest raten, selber die Fakten zu überprüfen. So irrt er sich um zwei Tage (23. April 1945, nicht 25. April) bezüglich Fegeleins Versuch, sich nach Nauen zu Himmler durchzuschlagen. Auch hält er mir vor, den Namen General Burgdorfs – als General „von“ Burgdorf falsch zitiert zu haben. Dies ist ein Fehler der deutschen Übersetzung, der bei fünfzehn Erwähnungen des Namens aber nur einmal vorkommt.

Am meisten hat mich überrascht, daß Fest mir vorwirft, ich hätte die Aussagen Albert Speers während des Nürnberger Prozesses den Aussagen Speers in seiner Autobiographie vorgezogen. Man wird doch wohl in dem, was Speer erst zwanzig und mehr Jahre nach Nürnberg niederschrieb, als die am wenigsten verläßliche Quelle sehen müssen. Weitaus bedeutender und für meine Darstellung ergiebiger war auch, was Speer amerikanischen Nachrichtendienstlern schon am 22. Mai 1945 zu Protokoll gab – die zeitgenössisch unmittelbarste und am wenigsten beschönigte Version, die Speer je gegeben hat. Sie ist in den American National Archives nachzulesen.

Aller Streit um Details deutscher Darstellungen dieses immensen und immens wichtigen Themas verblasst freilich angesichts des Reichtums des neuen Materials in den Archiven der früheren Sowjetunion. In Anbetracht der gewissenhaften Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs durch deutsche Historiker wirft dies eine interessante Frage auf: Warum haben so wenige diese Quellen untersucht, mit Ausnahme derer, die die deutschen Kriegsverbrechen im Osten erforschen? Liegt der Grund darin, wie mir ein Experte des Bundesmilitärarchivs erklärte, dass Wissenschaftlern aus Deutschland der Zugang verwehrt würde? Oder begegnen wir hier nicht eher einer Selbstbeschränkung auf den deutschen, den nationalen Blickwinkel?

Copyright Antony Beevor, 6. November 2002

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BERLIN 1945. DAS ENDE
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Originaltitel: Berlin: The Downfall 1945
Aus dem Englischen von Frank Wolf
Umfang: 544 Seiten,
€ 26,00 [D]
ISBN: 3-570-00369-8
Erscheinungstermin: September 2002

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Nach einer fünfjährigen Offizierslaufbahn in der britischen Armee, die ihn u.a. auch nach Deutschland führte, trat Antony Beevor aus der Armee aus und ging für zwei Jahre nach Paris, wo er seinen ersten von vier Romanen schrieb. Anschließend machte er sich vor allem mit Sachbüchern zur Militärgeschichte einen Namen und erhielt 1992 den Runciman Preis.

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Ursprüngliche Quelle:
http://www.pressdepartment.de/Pages/co/pi/2002/12/pi_BeevorFest.html